Licht und Schatten

 

Engel Balthasar kehrte zurück. Schon wieder hatte er eine gute Tat vollbracht und somit im Kampf gegen das Böse einige Punkte gut gemacht. Sein Vorgesetzter, Erzengel Geruthan, würde zufrieden sein. Schon sah Balthasar Geruthans Anwesen vor sich und setzte zum Landeanflug an, als er eine Gestalt ausmachte, die sich verstohlen vom Haus entfernte. Trotz der Dunkelheit erkannte er sie. Wie die Mächte des Lichts hatten auch die Mächte des Bösen ihre Diener. Und Sheruka war ein Widersacher, der Balthasar schon viel zu oft begegnet war. Ein ums andere Mal hatte sie es geschafft, seine Pläne zu durchkreuzen. Was immer sie hierher getrieben hatte, Balthasar konnte davon ausgehen, dass es etwas Schlechtes war. Aber diesmal würde sie damit nicht durchkommen.

Sheruka hörte im letzten Moment noch das Rauschen der Schwingen über sich. Sie hatte gerade noch Zeit sich umzudrehen, als Balthasar sich mit voller Wucht auf sie stürzte. Der Aufprall trieb ihr die Luft aus den Lungen. So überraschend kam alles, dass sie keine Chance zur Gegenwehr hatte. Das letzte, was sie noch sah, war Balthasars wutverzerrtes Gesicht, als er ausholte und sie bewusstlos schlug.

Balthasar stand schwer atmend auf. Sein ganzer Körper zitterte infolge des Adrenalinschocks, den Sherukas Anblick bei ihm auslöste. Er betrachtete ihren Körper. Wunderschön, aber leider nur äußerlich. Ihre Hässlichkeit lag verborgen im Inneren. Trotzdem hob er sie behutsam auf und trug sie zum Haus. Geruthan würde wohl am besten wissen, was zu tun war. Balthasar fand ihn in seinem Arbeitszimmer, gebeugt über einen Stapel von Dokumenten. Bei Balthasars Eintritt sah er auf, und über seine Miene huschte ein Hauch von Verblüffung, Erschrecken, Zorn, Resignation? Balthasar konnte es nicht recht einordnen, dafür war der Seufzer Geruthans beredeter.

„Leg’ sie auf die Couch, Balthasar", sagte er mit leiser Stimme. „Was hast du dir bloß dabei gedacht?"

„Was? Ich? Herr, ich habe sie erwischt, als sie heimlich Euer Anwesen verlassen hat. Wer weiß, was sie hier alles angerichtet hat. Ich war mir sicher, Ihr würdet gerne darüber Bescheid wissen?"

„Es war wohl mein Fehler. Aber da es nun schon mal geschehen ist, ist es zu spät, über verschüttete Milch zu klagen. Wecke sie auf!"

Verwirrt befolgte Balthasar Geruthans Befehl. Was meinte er mit diesen Worten? So in Gedanken vertieft war Balthasar, dass er nicht bemerkte, wie Sheruka aufwachte. Dafür spürte er ihre Faust um so deutlicher.

„Aufhören, Sheruka!" Geruthans Stimme klang schneidend und stoppte das aufkommende Handgemenge.

„Jawohl, Meister!"

„Meister?" Balthasar glaubte nicht recht zu hören. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht. „Was geht hier vor sich?" verlangte er zu wissen.

"Nun, es ist etwas schwierig zu erklären", erwiderte Erzengel Geruthan etwas zögerlich. „Am besten wäre es, wenn ich von vorne anfange. Ich kenne euch beide schon seit vielen Jahren, hatte aber gute Gründe, dies euch gegenüber zu verschweigen. Das liegt daran, dass ihr mich unter verschiedenen Identitäten kennt. Würdest du, Balthasar, Sheruka bitte mitteilen wer ich bin?"

„Ihr seid der Erzengel Geruthan!"

Sheruka zuckte zusammen. „Was? Aber ihr habt mir gesagt, ihr wäret Luzifer!"

„Der Teufel?" Jetzt war es Balthasar, der zusammenzuckte. Plötzlich beschlich ihn ein böser Verdacht. „Das würde erklären, wieso es Sheruka so oft gelungen ist, meine Pläne zu vereiteln."

„Komisch. Ich habe mich gerade gefragt, wie du es wohl geschafft hast, mir immer in die Quere zu kommen", warf Sheruka ein. „Ich frage mich, was wahr ist?"

Für einen kurzen Augenblick war es still.

„Es gibt ein Sprichwort", unterbrach Geruthan die spannungsgeladene Stille. „Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten. Dies trifft auch auf mich zu. Die Wahrheit ist, dass ich sowohl der Vertreter für das Gute als auch für das Böse bin."

Wie ein Schock lasteten diese Worte auf den beiden. Nur allmählich fand Balthasar sein seelisches Gleichgewicht wieder.

"Ihr scherzt", erwiderte er gepresst.

"Keineswegs."

"Und Gott lässt das zu?" fragte Sheruka spöttisch.

„Gott hat diese Welt schon vor langer Zeit verlassen. Wir hatten damals einen fürchterlichen Streit. Er war sehr verärgert über einen undankbaren Haufen Pöbel namens Menschen. So verärgert, dass er alle Menschen vom Antlitz der Erde tilgen wollte. Ich konnte ihn dazu bewegen, mir eine Chance zu geben, die Menschen zu retten. Er reiste ab und überließ mich meiner Aufgabe. Ich fing an, Gott mit Gut zu verbinden. Allerdings gab es trotzdem weiter erstaunlich wenig Menschen, die bereit waren, an Gott zu glauben. Bis ich durch Zufall entdeckte, dass die Menschen nur zu sehr bereit waren, an das Böse zu glauben. Und wenn sie erst einmal von der Existenz des Bösen überzeugt waren, dann waren sie auch für das Gute empfänglich. Den Rest könnt ihr euch denken. Ich musste nur noch genügend Helfer finden, die mich dabei unterstützten."

„Was wäre, wenn einer nicht mitspielt?" fragte Sheruka herausfordernd.

„Nehmen wir dich als Beispiel. Wenn du weiterhin böse bleibst, erfüllst du meine Aufgabe, wechselst du zum Guten, erfüllst du ebenfalls meinen Plan. Solltest du dich entschließen, nichts zu tun, gibt es genügend andere, die bereit wären, deinen Platz einzunehmen. Aber es würde mich freuen, wenn du und Balthasar weiterhin bereit wärt, für mich zu arbeiten, denn ich mag euch beide sehr. Und da ihr jetzt die Wahrheit kennt, wäre es gut, wenn ihr euch mal überlegen würdet, ob ihr nicht besser zusammenarbeiten solltet."

Balthasar blickte Sheruka. Er sah in ihre Augen, erkannte in ihnen die gleiche Unsicherheit, die ihn erfüllte. Er streckte Sheruka seine Hand hin und nach kurzem Zögern ergriff Sheruka sein Hand und drückte sie sacht.