Das Erste Gebot
Pfarrer Krüger lag im Sterben. Er fühlte, dass sein Leben
sich dem Ende zuneigte. Hier und jetzt. Aber er blickte dem Tod gelassen entgegen,
wusste er doch, dass im Jenseits Gottes Welt auf ihn wartete. Zufrieden schloss
Krüger die Augen, die Welt rings um ihn herum verschwand aus seinem Bewusstsein
und mit ihr sein Leben. Was weiter geschah, konnte Krüger hinterher nicht mehr
sagen. Urplötzlich fand er sich auf einer weiten, mit Sand bedeckten Ebene
wieder. Instinktiv wusste er, dass sie bis in die Unendlichkeit reichte.
Krüger blickte an sich herab. Das Totengewand, das er
getragen hatte, war verschwunden, hatte seiner schwarzen Soutane Platz gemacht
und an seiner Brust baumelte ein silbernes Kreuz. Er lächelte. Gott existierte!
"Aha! Hier steckst du also!" Eine donnernde Stimme
ließ ihn herumfahren. Seine Augen weiteten sich. Ein Riese stand ihm
gegenüber, an die fünf Meter groß, lange blonde Haare, mit funkelnden,
eisblauen Augen, die durch Krügers Seele hindurch zu schauen schienen. Bekleidet
war er nur mit einen metallbeschlagenen Lederschurz und dicken Stiefel aus Bärenfell. An seiner rechten Hand baumelte furchteinflößend ein
mächtiger Kriegshammer.
"Wer... wer seid ihr?" fragte Krüger.
"Man nennt mich Thor."
Pfarrer Krüger runzelte die Stirn. Der Name weckte eine
Erinnerung in ihm. Thor? Hieß nicht so einer der Götter der alten Germanen?
"Sehr richtig", bestätigte
Thor. "Ich bin ein Ase."
Bestürzt registrierte Pfarrer Krüger, dass sein Gegenüber
Gedanken lesen konnte. "Das kann nicht sein!" Pfarrer Krüger griff zu
seinem Kreuz. "Es gibt nur einen Gott. Meinen!"
"Was soll ich dazu sagen?" bemerkte Thor mit einem
grimmigen Lächeln. "Willkommen in der Wirklichkeit!"
Mit seiner Hand ergriff er Krüger. Es gab einen kleinen
Knall und beide waren verschwunden. Sekundenbruchteile später erschienen sie auf einem Plateau, wo ein gewaltiges Gebäude aus Stein vor ihnen
aufragte. Aus seinem Inneren drangen leise Klänge, wie von einem Fest.
"Walhalla", erklärte Thor und schob Krüger zu
einer Tür. "Geh rein und mach dich nützlich!"
Pfarrer Krüger öffnete die Tür und sah eine Küche.
Entsprechend den Maßen des Gebäudes war auch sie riesig. An über einem
Dutzend Spießen schmorten ganze Rinder, und Hunderte von Priestern waren dabei,
Platten mit Speisen und Getränken zu transportieren.
"Das ist nur ein Traum!" entfuhr es Krüger. Dann
erblickte er eine Gestalt, die er nur zu gut kannte: Kardinal Pfaff, der vor
fünf Jahren gestorben war.
"Eminenz!" rief Krüger laut. Kardinal Pfaff drehte
sich um und erblickte Krüger.
"Ah, Krüger. Gut, dass Sie kommen, wir können jede
Hilfe gebrauchen. Wir kommen mit der Arbeit kaum noch nach!"
"Was geht hier vor sich?"
"Ich weiß nicht, inwieweit Sie mit der germanischen
Mythologie vertraut sind. Nach dieser landen alle tapferen Krieger nach
ihrem Tod hier in Walhalla, wo sie gemeinsam mit den Asen an einem Festmahl
teilnehmen. Dieses Gelage findet nebenan statt und wir müssen dafür sorgen, dass der Nachschub an Met und Fleisch nicht ausgeht."
"Warum wir?"
"Nun, es ist so, dass kaum noch Menschen an die Asen
glauben. Wodurch nach dem Tode weniger Menschen hierher kommen. Folglich haben
wir hier einen Mangel an Bediensteten. Aus diesem Grund hat uns Gott sozusagen ausgeliehen, damit wir denen zu Hand gehen können."
"Gott existiert?"
"Ja! Haben Sie je daran gezweifelt?"
"Bis vor wenigen Augenblicken nicht. Aber, wenn Gott
existiert, was hat es mit den Asen auf sich? Wieso gibt es sie?"
"Denke an das 1. Gebot! Wie heißt es noch im zweiten
Satz?"
"Du sollst keine anderen Götter neben mir haben."
"Genau so ist es!"
Krüger stutze kurz, dann begriff er langsam. Es hieß ‘Du sollst keine
anderen Götter neben mir haben’ und nicht ‘Es gibt keine anderen Götter
außer mir’. Mit einem Nicken nahm er Kardinal Pfaff
das Tablett ab und machte sich daran, die Speisen in die Halle zu tragen.