Tina 

Schmerzen rasten durch seinen Körper, drohten, ihm das Bewusstsein zu rauben. Die Umwelt erschien wie durch einen Filter gedämpft. Undeutlich sah er einige verschwommene Gestalten, die sich im grellen Licht um ihn herum bewegten.

"Alle bereit für die OP?" hörte er eine Stimme sagen. Erinnerungsfetzen durchströmten sein Gehirn: der Lastwagen, die Böschung, der schreckliche Unfall und dann diese Schmerzen. Wenn sie doch endlich vorbei wären! Das Gefühl nach Frieden und Ruhe in ihm wurde wieder größer. Gleichzeitig wusste er, dass er diesem Gefühl nicht nachgeben durfte, es gab noch einiges, für das es sich zu leben lohnte. Mühsam versuchte er sich auf die Gestalten um ihn herum zu konzentrieren.

"Eigentlich ist es ein Wunder, dass er noch lebt", sprach eine links von ihm.
"Ich glaube, dass nur reine Willenskraft ihn noch am Leben hält", warf die erste Stimme ein.

"Hoffen wir, dass es so bleibt. Wie sieht es aus, Tina? Alles bereit für die Narkose?"

"Ja", erklang eine wohlklingende Frauenstimme und dann fiel ein Schatten über sein Gesicht. Ein wunderhübsches Gesicht beugte sich über ihn und zwei blaue Augen musterten ihn forschend. Er blickte in die strahlenden Augen und der Schmerz verblasste für einen Augenblick. Wie in Trance nahm er ihren Anblick wahr, merkte nicht, wie die Narkosemaske auf sein Gesicht gedrückt wurde. Selbst, als er in die Welt der Bewusstlosigkeit hinüber glitt, galten seine Gedanken nur diesen wunderschönen Augen und der Frage, wer sie wohl sein möge.

Sein Aufwachen vollzog sich langsam und war wiederum geprägt von einer Flut von Schmerzen. Sie drohten, sein Bewusstsein weg zu spülen. Wie ein Fels in der Brandung tauchte da die Erinnerung an das traumhafte, wunderhübsche Gesicht auf. Diese Frau, er wollte sie wieder sehen! Er kämpfte gegen den Schmerz an. Stöhnend öffnete er die Augen. Langsam kristallisierte sich der Anblick eines unbekannten, aber doch irgendwie vertrauten Raumes heraus: Er lag in einem Krankenzimmer. Dutzende medizinischer Geräte summten leise um ihn herum, eine Unzahl von Schläuchen und Kabeln verbanden ihn mit diesen. Ein weiteres Stöhnen entfuhr seinen Lippen. Da öffnete sich die Tür zu seinem Zimmer und eine Krankenschwester eilte herein.

"Guten, Morgen. Der Überwachungsmonitor hat angezeigt, dass sie aufgewacht sind. Wie fühlen sie sich?"

"Schmerzen", flüsterte er mit schwacher Stimme.

"Ich gebe ihnen sofort ein Mittel und hole dann den Arzt. Er wird sie sofort untersuchen. Fragen zu ihrem Gesundheitszustand kann er ihnen besser beantworten, als ich es könnte."

"Diese Frau, wer ist sie…?", hielt er sie zurück.

"Welche Frau?", fragte die Krankenschwester leicht verwirrt zurück.

"Blaue Augen, hübsches Gesicht." Er konzentrierte sich: "…Tina…"

Da lachte die Schwester auf.

"Das passiert immer wieder. Man hat sie einfach zu hübsch gemacht."

"Gemacht?" flüsterte er.

"Tina steht für Technisch Integraler Narkose Androide. Psychologen haben ermittelt, dass Menschen gegenüber männlichen Androiden Misstrauen empfinden, weshalb wir bevorzugt Weibliche mit einem attraktiven Äußeren verwenden. Sie wären nicht der Erste, der sich in Tina verguckt. So, nun lasse ich sie für einen Augenblick alleine und hole den Arzt."

Sie schloss die Tür und ließ ihn alleine. Seine Gedanken wanderten zu Tina. Ihr strahlendes Antlitz verhieß ein Glück, das aber unerreichbar bleiben musste; denn nie würde diese Frau seine Liebe erwidern können. Er schloss die Augen. Als zwei Minuten später der Stationsarzt mit der Krankenschwester das Zimmer betrat, zeigte keiner der Monitore ein Lebenszeichen mehr an.

© 2004 by Christian Wolbert