Dunkelmaterie
"Hypersprung durchgeführt!" meldete die ruhige
Stimme Karlssons, erster Offizier auf der Bretonnia.
"Checken Sie unsere Position", wies Kapitän Nandel
den Navigationsoffizier an, der schon eifrig dabei war, die Daten an seiner
Konsole auszuwerten.
"Wir sind an der berechneten Position angekommen,
plusminus einem Radius von 5 Millionen Kilometer. Eher geringer. Den genauen
Wert kriege ich erst in einigen Minuten."
"Das reicht vorerst", erwiderte Nandel.
"Computer: Logbucheintrag! - Hier spricht Kapitän Nandel, befehlshabender
Offizier des Forschungsschiffes Bretonnia. Es ist der 9. September 2063, 09:30
Standardzeit. Hypersprung war erfolgreich. Zielgebiet ist erreicht. Wir beginnen
mit dem Forschungsauftrag und untersuchen die Sedelwolke auf das Vorhandensein
von Dunkelmaterie. Logbucheintrag - Ende!"
Zufrieden lehnte sich Nandel zurück. Dieser Auftrag war
einer der wichtigsten in seiner Karriere. Seit langem rätselte man, warum es im
Weltall Stellen gab, in denen keine Sterne leuchteten. Gab es dort nur
Leere - und wenn ja, warum - oder existierte dort Materie, kalte, nicht
selbstleuchtende Materie, die sogenannte Dunkelmaterie? Falls die Existenz von
Dunkelmaterie bewiesen werden konnte, dann konnte auch endlich die Frage
geklärt werden, ob das Weltall sich für immer ausdehnen würde, oder ob es
irgendwann einmal zum Stillstand kommen würde und der Prozess sich umkehren
würde. Dabei würde die Gravitationskraft die Materie kollabieren lassen, bis ein
neuer Urknall das Universum erschütterte. Die Antwort darauf hoffte man in der
Sedelwolke zu finden.
"Kapitän?" unterbrach Karlsson Nandels Gedanken.
"Was gibt es?"
"Die Sensoren registrieren ein starke Gravitationsquelle
in Richtung 81° Delta, 7° Theta."
Elektrisiert sprang Kapitän Nandel auf. "Liegt die
Quelle innerhalb der Sedelwolke?"
"Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit. Der Ausschlag der
Instrumente weist genau auf das Zentrum der Wolke."
"Könnte es sich dabei um ein schwarzes Loch
handeln?"
"Negativ", meldete Peters, der Navigationsoffizier.
"Es gibt keine erkennbare Verzerrung der Sternbilder hinter der Sedelwolke.
Ein schwarzes Loch ist daher auszuschließen."
"Dann haben wir vielleicht schon Dunkelmaterie
gefunden. Karlsson, nehmen Sie Kurs auf die Gravitationsquelle!"
"Aye, aye, Kapitän!"
Die riesigen Schiffsmotoren dröhnten stärker, als Karlsson
das Schiff auf den neuen Kurs ausrichtete und langsam beschleunigte. Urplötzlich
fuhr ein gewaltiger Ruck durch das Schiff. Wer
nicht gerade sicher saß, wurde heftig zu Boden geschleudert.
"Maschinen stop!" brüllte Nandel blitzschnell
reagierend. "Was zur Hölle ist passiert?"
"Wären wir Zuhause, würde ich sagen, dass wir mit
einem Stück Weltraummüll kollidiert sind. Hier draußen - keine Ahnung. Vielleicht war es ein kleiner
Meteorit."
"Dann überprüfen Sie das, Karlsson, und ich möchte schnellstens einen vollständigen Schadensbericht haben!"
Es dauerte nicht lange bis die ersten Berichte eintrafen und
Kapitän Nandel sich allmählich ein Bild machen konnte. Es hatte eine Kollision
gegeben. Die Außenhülle der vorderen Sektion wurde dabei fast völlig
zerstört. Durch den nachfolgenden explosiven Druckabfall war es zu einer
vollständigen Verwüstung der Sektion gekommen. Das Sicherheitssystem hatte
rechtzeitig die Schotten zu den angrenzenden Sektionen geschlossen. Die
Erschütterung selbst führte im Schiff überall zu sekundären Schäden,
welche, dem vorläufigen Anschein nach, geringfügiger Natur waren. Die zweite
gute Nachricht war, dass niemand getötet oder schwer verletzt worden war.
Allerdings konnte noch niemand sagen, mit was sie zusammen gestoßen waren. Das
Objekt hing verkeilt in der Außenhülle.
"Schickt einige Männer in Raumanzügen hinaus. Sie
sollen feststellen, was unseren Weg so unsanft gekreuzt hat!"
"Also, was hat uns ausgebremst?" fragte Kapitän
Nandel einige Stunden später, als sein erster Offizier ihm Bericht erstattete.
"Schwer zu sagen. Es ist unbekannte Materie, sehr kompakt und
widerstandsfähig. Merkwürdig ist nur, dass es kein Materiebrocken
ist, sondern eine Art Strang zu sein scheint, der sehr lang ist. Wir konnten
noch kein Ende feststellen. Der Computer wertet gerade die noch recht
spärlichen Messdaten aus und versucht, Art und Größe des Objekts zu
errechnen."
"Ich möchte das Ergebnis sehen, sobald die Berechnung
zu Ende ist. Wie sieht es mit der Bretonnia aus? Können wir unseren Auftrag
ausüben oder müssen wir zurück zur Werft?"
"Die restliche Struktur der Außenhülle ist stabil.
Antrieb und Reaktoren laufen einwandfrei. Alles andere kann aus eigener Kraft
repariert oder ersetzt werden, so dass die Bretonnia immer noch voll
einsatzfähig ist, von der vorderen Sektion mal abgesehen."
"Gut. Nehmen Sie Proben von der Materie und
entfernen Sie den Rest vom Schiff. Wir haben immer noch ein Ziel, das wir
erreichen wollen. Wann glauben Sie, können wir weiterfliegen?"
"In zwei, drei Stunden. Der Strang ist aufgrund seiner
Masse sehr schwierig zu bewegen. Außerdem haben wir Schwierigkeiten, ihn mit
den Laserschneidern zu durchtrennen. Vorausgesetzt Sie können die
Wissenschaftler bewegen weiterzufliegen. Sie kleben nämlich wie Schmeißfliegen an dem
Strang."
"Keine Respektlosigkeit, Karlsson. Sagen Sie ihnen, es muss
reichen, wenn sie Proben nehmen!"
"Aye, aye, Sir! Ich ... " Karlsson verstummte, als
sein Blick zufällig auf die Messanzeige fiel.
"Was ist los?" Nandel blickte irritiert seinen
ersten Offizier an.
"Kapitän! Die Gravitationsquelle ist stärker
geworden!"
"Was meinen Sie mit stärker?"
"Vor dem Zusammenstoß betrug der Messwert 1,3
Gravitonische Einheiten. Jetzt sind es 1,5 GE."
"So ein Quatsch! Sollte denn etwa aus dem Nichts heraus
Materie entstanden sein? Entweder haben Sie die Zahlen vorhin falsch abgelesen,
oder durch den Zusammenstoß sind die Instrumente beschädigt worden."
"Das wird’s wohl sein", seufzte Karlsson und
wandte sich seinen Instrumenten zu, um sie zu überprüfen.
Die Sensoren schienen auf den ersten Blick intakt zu sein.
Eine erneute Kalibrierung erbrachte keine Änderung. Die Sensoren funktionierten
einwandfrei. Konnte der Fehler im Computer liegen? Karlsson rief die laufende
Berechnung auf, um zu sehen, ob auch diese irgendwelche Fehler aufwies. Sein
Atem stockte.
"Kapitän Nandel!"
"Was gibt es?"
"Sir, die Gravitationsquelle wird tatsächlich stärker.
Der Grund liegt darin, dass sie sich auf uns zu bewegt! Und werfen Sie mal einen
Blick auf das Display."
Karlsson drehte sich zur Seite, damit Nandel ungehindert auf
den Bildschirm schauen konnte. Mehrere Linien liefen über den Monitor und
bildeten ein Muster. Zwar noch unvollkommen, aber man brauchte auch keine große
Phantasie, um es zu vervollständigen. Es handelte sich um ein Spinnennetz, und
noch während Kapitän Nandel darauf starrte, lief eine kleine Vibration durchs
Schiff. Etwas versetzte den Strang in Schwingungen.